Die Lektion

Wer kennt ihn nicht, den Spruch, ich habe meine Lektion gelernt. Lektion meint im Allgemeinen eine Übungseinheit, das Pensum einer Unterrichtsstunde oder das Kapitel eines (meist fremdsprachlichen) Lehr- und Übungsbuches. In unserem Verständnis bedeutet dieser Spruch sehr oft, da wurde es mir aber gezeigt oder jemand hat es mir aber gezeigt, hat mir eine Lektion erteilt. Es klingt immer ein bisschen wie, ich war nicht gut genug oder ich war gar im Unrecht oder oft auch ich habe mich etwas weit aus dem Fenster gelehnt und bin dann aber mal ordentlich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden. Es hat so einen kleinen negativen Touch. Dabei ist dem ja meist gar nicht so. Vielleicht möchte uns der Andere etwas aufzeigen oder uns im guten alten Sinn einer Übungseinheit etwas beibringen, etwas lehren. Oder aber es steckt überhaupt keine Intention dahinter und derjenige weiß wahrscheinlich auch gar nicht, dass er eine Lektion erteilt hat.

Letzteres erlebte ich vor kurzem in einem Supermarkt. Ich stand hinter einer älteren Dame an der Kasse und natürlich war ich ein bisschen unter Zeitdruck. Nicht dass die gute Frau so wahnsinnig langsam gewesen wäre, aber Sie hatte einfach nicht genug Geld einstecken. Und während sie sich durchaus hilfesuchend überlegte, was sie denn dalassen könne, der, zugegebenermaßen sehr freundliche, Kassierer auch etwas überfordert schien und ich langsam aber sicher ungeduldig wurde, reichte ein ziemlich junger Mann von der anderen Kasse aus die fehlenden 10 € rüber. Erst bekam es die ältere Dame gar nicht mit, dann murmelte sie, dass der junge Mann sie doch gar nicht kenne und wie sie es ihm denn vor allem zurückgeben solle. Der Angesprochene blieb total entspannt und sagte nur, ich gebe es Ihnen gern und möchte es auch nicht zurückhaben, bezahlte parallel seinen eigenen Einkauf und verließ mit einem freundlichen Auf Wiedersehen den Supermarkt. Er heimste noch nicht einmal den Beifall ein.

Ich war baff und hatte ein, sehr wahrscheinlich noch schlechteres Gewissen als die ältere Dame. Ich hatte doch direkt hinter ihr gestanden, aber nichts getan und sogar noch meiner Ungeduld ihren Freiraum gelassen. Der junge Mann hatte es mir aber wirklich gezeigt. Was genau hatte er mir denn gezeigt? 

Was Großzügigkeit bedeutet? Solidarität vielleicht oder Empathie? Was es heißt, einem anderen Menschen komplett uneigennützig zu helfen? Ihm taten die 10 € sicherlich nicht weh, er sah aber auch nicht aus, als wüsste er nicht wohin mit all seinem Geld. Aber das spielte auch gar keine Rolle. Er hat geholfen und er hat es gern getan.

Seitdem beobachte ich an mir, dass ich wieder mehr hinschaue und anderen Menschen helfe, meist Müttern mit ihren Kinderwägen, weil die Aufzüge an den nicht so hoch frequentierten Bahnhöfen entweder defekt oder überhaupt nicht vorhanden sind. Ob ich einfach so jemandem mal 10 € geben werde, weiß ich nicht, aber es geht auch nicht um Geld, es geht um eine Geste, es geht um das bewusste Hinschauen, es geht um das Menschlich sein. 

Diese Lektion habe ich tatsächlich gelernt, von einem jungen Mann in einem Supermarkt.

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