Sind wir zu satt?

Gestern habe ich mit einem Freund telefoniert. Er ist schon im Pensionsalter und hat im Prinzip alles, was es so braucht, Immobilien, Geld ohnehin, eine wunderbare Frau an seiner Seite, die auch noch ganz fantastisch kocht, er erfreut sich bester Gesundheit und einer ausgesprochen guten geistigen Verfassung.

Er war gerade in Rumänien. Da war er schon oft, eine gewisse Affinität ist also vorhanden. Am Fuße der Karpaten, in wunderbarer Landschaft und jetzt auch überall mit Internet. Er kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Und dann das, wenn denn so viele Menschen aus wirtschaftlichen Gründen das Land verlassen und zu uns kommen, könnte man doch im Sinne des europäischen Gedankens den umgekehrten Weg gehen. Auf meine Frage, ob er denn ernsthaft überlege, nach Rumänien auszuwandern, antwortete er, nicht sofort, aber einen gewissen Reiz hätte es schon. Dort könne man noch aktiv sein, etwas aufbauen, die Leute seien hungrig nach Entwicklung, es herrsche eine gewisse Aufbruchstimmung und, wie gesagt, mittlerweile seien die Dörfer auch an die Kanalisation angeschlossen und es gäbe überall Internet. 

Wir hier in Deutschland sind doch satt. Hat man erst einmal seine schwarz satinierte Einbauküche, ist doch alles vorbei. Alles sauber, Häuschen, Auto alles da. Und jeder lebt nur noch für sich allein in diesem ach so perfekten Zuhause. Das sei doch langweilig und überhaupt fühle er sich intellektuell in so einem Umfeld so gar nicht mehr gefordert.  

Sind wir tatsächlich zu satt? So ganz kann ich ihm nicht widersprechen. Uns geht es trotz aller Geschehnisse der letzten Jahre gut. Wir haben eines der besten sozialen Netze dieser Welt. Alles wie immer, nur keine Störfaktoren. Deutsche Ordnung und Betriebsamkeit, den Sonntagsbraten jeden Tag und ein kühles Bier oder einen guten Wein am Abend. Und Fernsehen. Oder Streamen, egal. Woher kommen die Anreize? Woher die Motivation, etwas zu verändern? Woher? Insofern gebe ich meinem Freund Recht, wir „verdummen“ nach bestem Wissen und Gewissen.  

Aber es bröckelt, es bröckelt an allen Ecken und Enden. Ein anderer Freund fasste es vor kurzem so zusammen, wir ziehen nicht mehr am selben Strang. Nach dem Krieg hatten alle das Ziel, nicht zu verhungern, danach, sich einen gewissen Wohlstand zu erarbeiten. Und heute? Leben wir in einer Welt der Überindividualisierung. Es gibt alles im Überfluss, seien es die Waren des täglichen Bedarfes oder die unendlichen Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen oder auszudrücken. Lost in Optionen.

Und wir haben einen ganz ordentlichen Generationenkonflikt, was die Sicht auf das Leben und Arbeiten betrifft. 

Also wenn ich es mir so recht überlege, gibt es doch Ansatzpunkte für Veränderungen, gibt es doch Anreize und interessante Fragestellungen, denen wir uns gern zuwenden dürfen. Man kann dafür nach Rumänien übersiedeln, man kann es aber auch vor der eigenen Haustür angehen.

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